Blog Der Reiz des Rationellen
Die Frage nach der Industrialisierung des Bauens wird bei den Wohntürmen In Lancy nicht als isoliertes, technisches Fertigungsproblem behandelt, sondern in der Tradition avantgardistischer Forschungen eng an den Entwurf gebunden. Lamunière und van Bogaert befassen sich mit den räumlich-strukturellen Möglichkeiten der Vorfabrikation, d.h. sie durchbrechen die Logik tradierter Bauprozesse und der damit verbundenen Schnitt- und Grundrisslösungen, um die Elemente des Entwurfs, die Konstruktion, die Raumstruktur und den Herstellungsprozess aufeinander zu beziehen.
Die Architekten greifen auf das Konstruktionsprinzip des Skelettbaus zurück, das den modernen Raum im Sinne des "plan libre" ermöglicht und dem konventionellen Schottenprinzip des Plattenbaus entgegengesetzt ist. Jedes Geschoss nimmt vier großzügige, loftartige Wohnungen auf, die sich auf eine Vorstellung des Wohnens beziehen, wie sie Mies van der Rohe bei den Lake Shore Drive Apartments in Chicago 1951 verwirklicht hatte. Die Wohnungen in Lancy sind im Sinne der offenen Grundrissgestaltung in die Skelettstruktur eingefügt. Große, quadratische Stützen legen eine räumliche Hierarchie von bedienenden zu bedienten Räumen fest. Durch das Zurückversetzen der vollverglasten Fassade von der Ebene der äußeren Doppelstützen entstehen umlaufende, weiträumige Balkonflächen. Diese Maßnahme unterstreicht zusätzlich die Wirkung einer sich zwischen Boden und Decke räumlich horizontal ausdehnenden Wohnung. Die Wohntürme von Lancy können so als eine Stapelung von miesianischen Wohnpavillons verstanden werden.
Der avantgardistische Anspruch bezüglich des Entwurfs und der Technik kommt bei der Neuinterpretation der Bauteile an der Fassade zum Tragen. Ausgehend vom Eckproblem der minderbelasteten, aber aus konstruktiven Gründen üblicherweise gleich dimensionierten Eckstütze entwickeln Lamunière und van Bogaert ein vorfabriziertes Stützelement mit zwei Kragarmen, welches einerseits ein Weglassen der Eckstütze ermöglicht, andererseits eine moderne Interpretation der Gebäudeecke darstellt.
Die technische Frage im Wohnungsbau wird in den sechziger Jahren auf das riesige Experiment der schweren Vorfabrikation konzentriert. Fast alle bedeutenden Wohnbauprojekte dieser Zeit sind Teil dieser Auseinandersetzung, bei der die Industrialisierung des Bauens mit der Hoffnung auf das soziale Heil verbunden wird.
Für den heutigen Architekten stellt sich dagegen ein für die gegenwärtige Situation charakteristischer Zwiespalt ein, wenn er seinen Entwurf bezogen auf die Bilddiskussion reflektiert und gleichzeitig am avantgardistischen Anspruch, die Produktionsbedingungen und die Architektur aufeinander zu beziehen, festhält. Die von der Architektur der Avantgarde vermittelten technischen Bilder, z.B. die Repetition identischer Teile einer Großserie, stimmen mit dem heutigen Fortschritt der Technik nicht mehr überein. Flexiblere Produktions- und Schalungsmethoden, der Einzug der Steuerungstechnik in das Bauwesen bilden neue Parameter. So sind es heute spezifische, aufgrund der konkreten Bauaufgabe relevante Produktionstechniken (Fertigelement-, Hybrid- und Holzbauweise usw.), aus denen sich die jeweiligen entwerferischen Absichten und ein großes Feld an architektonischen und konstruktiven Möglichkeiten ableiten lassen.
Artikel: Der Reiz des Rationellen, Werk,Bauen+Wohnen 10/1995, Susanna Knopp und Markus Wassmer
Fotos: ©Omarini Micello Architectes SA – Genève